onsdag 20 februari 2013

V1-DS - Sprachgeschichte und -vergleich (4.2&4.3)

Der Verb-erst-Deklarativsatz in sprachgeschichtlicher und sprachvergleichender Perspektive

4.2.     Das Jiddische

Zur V1-Stellung im DS der älteren Stadien des Jidd. sollen zunächst folgende Be­ob­ach­tungen fest­gehalten werden: Im Westjidd. ist sie “als stilneutrale Kon­struk­tion leidlich lebendig ge­blie­ben” (Timm 1986:9);[1] nach Santorini (1989:77) tritt sie in der Ge­schich­te des Westjidd. nur marginal auf. – Das Ost­jidd. ist erst ab etwa 1600 gut über­liefert (s. Timm 1986:6); schon von Be­ginn der Überlieferung an finden sich hier V1-DS (Santorini 1989:77).[2]
            Der V1-DS ist dabei nach Hall (1979:273, Anm. 13) im Jidd. als “an Indo-European survival” zu betrachten, also keinesfalls etwa als Neuerung des Jidd. gegenüber anderen germ. Sprachen. Auch eventuelle Hypothesen, die für die Erklärung des V1-DS auf nicht­germ. Sprachkontakt Bezug neh­men, dürf­ten hier nicht zutreffend sein.[3]
            Auch in der heutigen jidd. Sprache ist der V1-DS häufig anzu­tref­fen.[4] San­to­ri­ni (1995:61) zählt ihn zu den “cha­rac­teristic features of modern colloquial Yid­dish”. Aber nicht nur im gespro­che­nen Jidd. kommt der V1-DS vor: Der Typ ist “a part of both everyday speech and of conscious lit­er­ary nar­rative” (Hall 1979:274, Anm. 14).[5] Einige Bei­spiele:[6]
(A:52)    Fregt er baj di ssochrim: “[…]” Entfert men im: “[…]” Is Frojim zu­ge­gangn zu der kasse, gekojft a bilet far anderhalbn guldn, un arojss ojf dem peron. Ss-kumt on der zug. […] Fregt er a ssojcher: “[…]” Hert er an entfer: “[…]” Git Frojim dem konduktor a halbn guldn. […] Krichn di jidn unter di benk, kricht mit sej ojch Frojim.
               [‘Fragt er bei den Kaufleuten: “[…]” Antwortet man ihm: “[…]” Ist Ephraim (zu)ge­gan­gen zu der Kasse, gekauft ein Billett für andert­halb Gulden, und heraus auf den Perron. 's kommt an der Zug. […] Fragt er einen Kaufmann: “[…]” Hört er eine Antwort: “[…]” Gibt Ephraim dem Kondukteur einen halben Gulden. […] Kriechen die Juden unter die Bän­­ke, kriecht mit ihnen auch Ephraim.’] (aus: Landmann 1964:136ff.)
(A:53)    Zey hobn beyde gehat gedint in soldatn, hobn zey gekent shisn.
               [‘They had both served as soldiers, so they knew how to shoot.’] (Santorini i.V.:84f.)
(A:54)    Volt ikh geven a rov, ken ikh nit keyn toyre.
               [‘I would be a rabbi, but I don't know the Torah.’] (Santorini i.V.:85f.)
Man wird behaupten können, daß das Jidd. wohl – neben dem Isl., vgl. unten – diejenige der germ. Sprachen ist, in der die V1-Stellung im DS bis auf den heu­ti­gen Tag am häufigsten in Erscheinung tritt, dies sowohl in ge­schrie­be­ner wie in gesprochener Sprache.

4.3.     Das Niederländische

Interessanterweise ist einer der ältesten überlieferten Belege der nl. Sprache über­haupt ein DS mit V1-Stellung; van Kerckvoorde (1993:174) spricht von “the oldest Dutch sentence”. Es handelt sich um die sog. probatio pennae aus dem 11. Jh.;[7] dieser altnl. Satz lautet:[8]
(A:55)    Hebban olla uogala nestas hagunnan hinase hi[c] [e]nda thu uu[at] [u]n­bida[n] [uu]e nu [‘All birds have begun their nests except for me and you. What are we still waiting for?’] (van Kerckvoorde 1993:174)[9]
Auch in mnl. Zeit besteht die Möglichkeit, Sätze dieses Typs zu verwenden, wei­ter.[10] Burridge (1993:222) zählt den V1-DS zu den wichtigsten Satztypen des Mnl. Einige mnl. Belege:[11]
(A:56)    Sprac der Gawein: het dunct mi goet, here, dat gi hebt geseit. (bei Stoett 1909:1)
(A:57)    Jeghen den steen is goet gheten senpoer, suuert hi den vrouwen.
               [‘For stones (in the kidneys), mustard powder is good eaten, it cleanses women.’] (um 1450, bei Burridge 1993:28)
Was die Verwendung des Typs in der heutigen nl. Sprache betrifft, so dürften die Ver­hält­nisse ähn­lich liegen wie im heutigen Dt.; d.h., es handelt sich v.a. um ein Phänomen der gesprochenen Spra­che, das deshalb in Darstellungen der nl. Sprache oft ver­nachlässigt wird.[12] Es gibt jedoch auch Autoren, die Be­merkungen zu diesem Typ gemacht ha­ben.[13] So schreiben z.B. Cremers/Sas­sen (1983) zur heutigen nl. Sprache:
We find V1 sentences in a declarative [illocutionary] role […] As such, V1 sentences are by no means mar­ginal in every day's speech. [They] exhibit a stylistically marked but far from unusual way of re­porting a sequence of events that is essentially declarative (Cremers/Sassen 1983:41f., Hervorh. OÖ)
und geben u.a. folgendes Beispiel mit einer Sequenz von V1-DS:[14]
(A:58)    Komt Anna binnen, steekt ze een sigaret op, wordt Karel ontzettend kwaad. [‘Comes Anna in, lights she a cigaret, gets Karel terribly angry.’] (bei Cremers/Sassen 1983:41)
Auch andere Autoren bezeichnen V1-DS als ein Charakteristikum des gespro­che­nen Nl.; den Besten (1983) gibt das folgende Beispiel:
(A:59)    Ging ik laatst naar De Swart. Raakte ik aan de praat met die advokaat, die dronkelap. [‘Went I to De Swart's. Got I into a chat with that lawyer, that alco­holic.’] (den Besten 1983:62)
Auch in Volksliedern kann nach Overdiep (1949) der V1-DS im Nl. angetrof­fen werden; z.B.:
(A:60)    Sprak daar niet Piet Hein een alwarig woord (Piet Hein-Lied, bei Overdiep 1949:523)
Abschließend kann also festgehalten werden, daß das Nl. die Möglichkeit der V1-Stel­lung im DS eben­falls kennt. Sie ist aus verschiedenen Stadien der Sprachgeschichte be­legbar. Im heutigen Nl. ist der V1-DS ein durchaus vorkommender Satztyp, wenn er auch hauptsächlich auf die ge­spro­che­ne Spra­che beschränkt sein dürf­te.
            An dieser Stelle ist auch sehr kurz auf das im Prinzip auf der Grundlage des Nl. ent­stan­de­ne Afr. ein­zuge­hen. Deklarative V1-Stellung scheint im Afr., wie im verwandten Nl., durchaus mög­lich zu sein. Ponelis (1993) führt mehrere Belege an, u.a. fol­gendes mit einer Sequenz von V1-DS:
(A:61)    Is Pieta gekomen. Is wij gereden om te schieten. Heef Pieta een wilde bees geschoten. Is en bees vrekt.
               [‘Pieta came. We rode out hunting. Pieta shot a gnu. A cow died.’] (Po­ne­lis 1993:318)
 


[1]Westjidd. Belegquellen ab etwa 1600 bis in dieses Jh. hinein werden bei Timm (1986:9, Anm. 37) angeführt.
[2]Belege aus dem Jahre 1614 bei Timm (1986:9), vgl. von Polenz (1991:297f.).
[3]Hall (1979:273, Anm. 13) schließt bezüglich des V1-DS im Jidd. jeglichen slawischen bzw. hebrä­isch-aramäi­schen Einfluß aus. In den entsprechenden Ab­schnitten bei Santorini (1989:22ff.) wird ein Einfluß dieser Sprachen(-grup­pen) im Bereich der V1-Stellung nirgends er­­wähnt. Unerwähnt bleibt ein solcher auch bei Weinreich (1980:532), wo eventueller slawischer Ein­fluß auf die Satzstruktur des Jidd. behandelt wird. Vgl. a. Weinreich (1958:383).
                Dagegen könnte man sich natürlich überlegen, ob die Verwendung der in der Sprache von alters her vorhandenen V1-DS im Ostjidd. durch das Vorkommen entsprechender Strukturen in den umgebenden slawischen Sprachen sozusa­gen indirekt gestützt worden ist. Man vergleiche, daß die V1-DS im überlieferten Westjidd. offenbar seltener sind, even­tuell deswegen, weil dies eine derartige “Stütze” nicht besaß – die hauptsächliche Koterritorialsprache des West­jidd., das Dt., stand ja in seiner schriftlichen Ausprägung dem V1-DS vielfach ab­leh­nend gegenüber.
[4]Als im Jidd. sehr häufig wird der V1-DS von Timm (1986:9) und Santorini (i.V.:83) be­zeichnet; vgl. von Polenz (1991:297f.). S.a. Santorini (1989:60, 1994:87), Sigursson (1990:41), wo fest­ge­halten wird, daß de­kla­ra­tive V1-Stellung im Jidd. produktiv ist.
[5]Ob er gar als “the most rhetorically un­marked sentence” (Hall 1979:282) gelten kann, sei hier jedoch dahingestellt.
[6]Die Beispiele illustrieren jeweils verschiedene Funktionen von V1-DS im Jidd. – die narrative, die konkludierende sowie die adversative Funktion. Vgl. hierzu Kapitel 3., Abschnitt 3.2.
[7]Mit Reproduktion des Originals vorgestellt in Schönfeld (1933). S. van Loey (1970:253), Donaldson (1983:127), Robinson (1992:205).
[8]Nach Weerman (1989:183) “O[ld] D[utch] 12th century”. Gerritsen (1984:123) nennt den Satz gar “the only Old Dutch sentence that has been handed down to us”.
[9]“Literal translation: Have all birds begun nests except I and thou” (Donaldson 1983:127, Anm. 18).
[10]In Burridges verschiedenen mnl. Teilkorpora (s. statistische Angaben 1993:25f.) machen sie bis zu 4% der selb­ständigen DS aus. – Overdiep (1949:519) erwägt die Möglichkeit, daß V1-DS im gesprochenen Mnl. häufiger gewesen sind als in der Schriftsprache; vgl. die Über­le­gun­gen zum Mhd. oben.
[11]Vgl. dazu Verdam (1908:3, Anm. 1). Weitere mnl. Belege (ebd.:282) sowie bei Overdiep (1949:519), Burridge (1993:27ff., 164ff.). Belege aus dem Nl. des 16. Jh. bei Over­diep (1949:519f.).
[12]Vgl. a. van Kemenade (1987:44) zu V1-DS im Nl.: “being characteristic of the spoken lan­guage, it is doubtful whether such sentences are found with any frequency in a corpus of written texts”. – Für wertvolle Hinweise zum V1-DS des Nl. bedanke ich mich bei Lektor G. Otterloo, Göteborg.
[13]S. auch Belege aus dem Erstspracherwerb im Nl. bei Jordens (1990:passim).
[14]Ein weiteres Beispiel mit einer narrativen Sequenz von V1-DS gibt Jansen (1981:123).

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