Der Verb-erst-Deklarativsatz in sprachgeschichtlicher und sprachvergleichender Perspektive
Das in diesem Appendix vorgestellte Material bildet die Grundlage des oben in Kapitel 2. skizzenhaft erstellten Überblicks zur Stellung des finiten Verbs im germanischen Sprachbereich. Der Appendix ist so aufgebaut, daß zunächst in 1. und in 2. die ältesten Sprachstufen behandelt werden, die den germanischen Sprachen gemeinsam sind. Daran schließt sich mit 3. ein Überblick über die unmarkierte Verbstellung im Deklarativsatz der germanischen Sprachen an. Hierauf folgt in 4. eine nach Einzelsprachen gegliederte Übersicht zum Verb-erst-Deklarativsatz (= V1-DS).
1. Zum Indogermanischen
Im folgenden werden die grundlegende Verbstellung sowie die deklarative V1-Stellung in der angenommenen, größtenteils rekonstruierten indogermanischen Grundsprache besprochen.[2]
Mit großer Wahrscheinlichkeit läßt sich darauf schließen, daß die grundlegende Verbstellung des Indogermanischen die Verb-letzt-Stellung (= VL-Stellung) gewesen ist; somit kann das Indogermanische in typologischer Hinsicht als eine SOV-Sprache betrachtet werden. Neben der VL-Stellung hat es auch die alternative Möglichkeit der V1-Stellung gegeben. Das Indogermanische zeigt demnach eine Verbstellungsopposition VL‑/V1-Stellung. Diese Position läßt sich aus dem Studium der Fachliteratur gewinnen. Hier läßt sich zunächst festhalten, daß es über die grundlegende Stellung des finiten Verbs im selbständigen Deklarativsatz in der (angenommenen) indogermanischen Grundsprache in der Forschung unterschiedliche Hypothesen gegeben hat. Dressler (1969:20f.) und Schrodt (1983: 115) etwa weisen darauf hin, daß drei Verbpositionen (V1 wie auch Verb-zweit (= V2) und VL) bezüglich der grundlegenden Verbstellung des Indogermanischen ihre Fürsprecher gehabt haben.[3] Von einer endgültig gesicherten und überall akzeptierten Vorstellung zur indogermanischen Verbstellung kann kaum die Rede sein.[4] Dennoch gibt es in der Forschung – nicht zuletzt auch in den neueren Arbeiten – eine klare Tendenz, die VL-Stellung als die grundlegende Verbstellung des Indogermanischen zu betrachten.
Die V1-Stellung als die grundlegende Verbstellung des indogermanischen Deklarativsatzes anzusetzen, haben nur sehr wenige Forscher vorgeschlagen. V.a. in der älteren Literatur hat diese Ansicht bisweilen ihre Anhänger gefunden; hier ist hauptsächlich auf Hirt (1934:214, 220, 1939:194)[5] sowie Schneider (1938:44ff., 66)[6] hinzuweisen. Ein neuerer Befürworter dieser Annahme zum Indogermanischen ist u.U. Miller (1975:41), der vom Indogermanischen als “probably originally a VSO language” spricht;[7] allerdings darf Verb-Subjekt-Objekt-Abfolge keinesfalls mit absoluter V1-Stellung gleichgesetzt werden, da bei ersterer z.B. Adverbien oder andere Elemente, die weder als Subjekt noch als Objekt klassifiziert werden, präverbal stehen können.
Die Annahme von V2 als grundlegender Verbstellung im selbständigen Deklarativsatz des Indogermanischen ist ebenfalls nur in einer geringeren Anzahl von Arbeiten gemacht worden; sie wurde v.a. von Behaghel vertreten. Er stellt z.B. fest, “daß bereits das Igm. [= Indogermanische] im Hauptsatz in weitaus überwiegendem Maße dem Verbum die Mittelstellung (Zweitstellung) zuweist” (1932:11, vgl. a. 1929).[8] Diese Auffassung von V2 als grundlegender Verbstellung im Indogermanischen – die in typologischer Terminologie als SVO bezeichnet werden kann – ist jedoch im Prinzip ohne Anhänger geblieben.[9]
Die am weitesten verbreitete und auch heute gängige Auffassung über die Verbstellung im selbständigen Deklarativsatz des Indogermanischen dürfte also die VL-Hypothese sein, die anfangs v.a. Delbrück (1900) vertreten hat.[10] Delbrück stellt (ebd.:81) fest, er könne der Annahme, V2 sei im selbständigen Satz die “habituelle Stellung” gewesen, nicht zustimmen.[11] Delbrück selbst kommt in dieser Frage zum eindeutigen Schluß: “Das Verbum stand in dem unabhängigen Aussagesatz am Ende” (1900:83).[12]
Diese Hypothese wurde schon sehr bald von einer Reihe von Forschern als richtig akzeptiert;[13] sie wird z.B. auch von Wunderlich/Reis (1924) übernommen, die wie folgt formulieren:
Für die [indogermanische] Ursprache nimmt man in der Regel an, daß das Verbum im Aussagesatz eine starke Neigung zur Stellung am Satzschlusse hatte. […] Man darf diese Stellungsregel für eines der sichersten Ergebnisse der indogermanischen Satzlehre halten. (Wunderlich/Reis 1924:84, Hervorh. i.O.)
In der neueren Forschung haben u.a. Dressler (1971:18f.) und Hopper (1975:46) die VL-Hypothese zum Indogermanischen übernommen. Lehmann (1974:30), der zum Indogermanischen eine Vielzahl syntaktischer Phänomene aus typologischer Sicht ausgewertet hat, spricht von “the unmarked order, with verb final”.[14]
Der kurze Überblick über die grundlegende Stellung des finiten Verbs im Indogermanischen hat deutlich gemacht, daß zu dieser Frage verschiedene Hypothesen existiert haben. Welche von diesen letztendlich richtig ist, kann (und soll) hier selbstverständlich nicht entschieden werden. Es gibt jedoch offenbar gute Gründe, von einer grundlegenden VL-Stellung im selbständigen Deklarativsatz auszugehen; so ist auch diese Hypothese in der heutigen Forschung allgemein akzeptiert worden.
Hervorzuheben bleibt, daß fast alle referierten Forscher – also nicht nur Anhänger der V1-Hypothese wie Schneider oder Hirt – mit der Möglichkeit einer V1-Stellung im Indogermanischen in besonderen Fällen rechnen; vgl. stellvertretend z.B. Behaghel (1932:27):
“Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß das Igm. [= Indogermanisch] absolute Anfangsstellung des Verbs gekannt hat”.
“initial position of the simple verb is well attested […] and is almost universally attributed to Indo-European”.
Dabei wird i.d.R. angenommen, daß das Indogermanische im selbständigen Deklarativsatz die V1-Stellung unter bestimmten Bedingungen verwendete – als “okkasionellen” (Delbrück 1900)[16] bzw. markierten (Ebert 1978:35) Typ. Der V1-Stellungstyp dürfte generell, somit auch im Deklarativsatz, mit Markiertheit verbunden gewesen sein. Im Indogermanischen kann demnach in bezug auf die Verbstellung von folgendem Zustand ausgegangen werden:
“the basic syntagm was: final verb in the neutral, initial verb in the marked clause” (Hopper 1975:58).
for the uncompounded finite verb, [there was] an opposition of sentence initial and sentence final position of V [= verb] […] The latter was evidently ‘normal’, and the former the stylistically marked member of the opposition. (Watkins 1964:1041)
[1]Es ist vielfach dafür argumentiert worden, für die Feststellung von Wortstellungsregularitäten in erster Linie Prosatexte heranzuziehen. Vgl. in diesem Sinne u.a. Braune (1894:35), McKnight (1897a:165), Reis (1901:213), Diels (1906:2), Maurer (1924:154), Schneider (1938:6), Werth (1970:27f.), Näf (1979:147); positiv zur Evidenz aus der Poesie Hermann (1895:501), Schulze (1892:42), Ries (1907:374, Anm. 49), Kieckers (1915:6), Biener (1922a:136, 1926:225, 241), Schrodt (1983:111). In bezug auf viele der älteren Stadien der germanischen Sprachen zwingt allein schon die Überlieferungslage dazu, auch andere als Prosatexte in Betracht zu ziehen. Dies gilt vielfach für die ältesten Quellen der anderen germanischen Sprachen (vgl. etwa Kuhn 1933:108, Schneider 1938:6ff.) und auch z.T. für das Ahd. (vgl. Starker 1883:1, Ohly 1888:5, Biener 1922a:130, Maurer 1924:152, Anm. 1) und das Mhd. (vgl. z.B. Betten 1987:4, Näf 1992:38f.).
[2]Zum – keineswegs trivialen – Problem der Annahme bzw. Rekonstruktion einer indogermanischen Grundsprache vgl. in der neueren Literatur einführend z.B. Marchand (1955), Antonsen (1965), Schmitt (1967:2ff.), van Coetsem (1970:19), Lehmann (1974:5, 251), Dezs, Lightfoot (1980), K.H. Schmidt (1980), Braunmüller (1982:256ff.), Winter (1984).
[3]Daneben fand sich zeitweilig auch die Auffassung von der “freien Wortstellung” im Indogermanischen, s. Braune (1894:50 und ebd.:Anm. 2), Hirt (1929:341, 357).
[4]Vgl. a. die Feststellung Schneiders (1938:3), daß “bisher über die Stellung des Verbs in der idg. Grundsprache keine Einstimmigkeit der Ansichten herrscht”.
[5]Vgl. Dressler (1969:20, Anm. 116), Schrodt (1983:115f.). Stark kritisch zu Hirt äußert sich Lehmann (1993:194f.).
[6]Braunmüller (1982:121) bezeichnet Schneiders (1938) Ausführungen allerdings als “weitgehend spekulativ”; auch nach Schrodt (1983:116) arbeitet Schneider “ohne zureichende Beweisführung”. Scharfe Kritik an Schneider äußert bereits Kuhn (1939), vgl. a. Wunder (1965:486, Anm. 7), Hopper (1975:17f.).
[7]Diese VSO-Sprache habe sich dann im weiteren Verlauf noch in indogermanischer Zeit nach SOV hin gewandelt (Miller 1975). Vgl. ähnliche Überlegungen bei Friedrich (1975:61).
[8]Die Überlegungen Behaghels gehen zurück auf einen sehr einflußreichen Beitrag von Wackernagel (1892), in dem u.a. auf das rhythmische Gesetz hingewiesen wurde, nach dem gewisse schwachbetonte Satzglieder im Indogermanischen an zweiter Stelle im Satz stehen. Dabei ergibt sich die Möglichkeit, daß auch kürzere, schwachbetonte Verbformen an dieser Stelle erscheinen (können), während längere, betonte in Später- oder Endstellung stehen. Vgl. etwa Ebert (1978:34f.), Schrodt (1983:113), Hopper (1975:15f.).
[9]In der neueren Forschung vertritt Friedrich die Auffassung, daß für das Indogermanische der Typus SVO als unmarkiert anzusetzen ist, s. Friedrich (1975 passim, s. z.B. 68f.; 1976). Fundamentale Bedenken äußern hierzu Vennemann (1976), Braunmüller (1982:38f.); vgl. a. Schrodt (1983:115). – Einen weiteren Typ der V2-Stellung hat Scherer (1878:481) als den grundlegenden vorgeschlagen: “Also: Object, Prädicat, Subject: dies ist die alte Wortfolge”. Mit dieser Anschauung dürfte Scherer m.W. jedoch allein stehen.
[10]S. z.B. Schneider (1938:1f.), Ebert (1978:34), Schrodt (1983:113), Hopper (1975:30).
[11]Delbrück hat allerdings später neben der (1900) angesetzten ‘habituellen’ VL-Stellung und der ‘okkasionellen’ V1-Stellung des indogermanischen selbständigen Deklarativsatzes auch noch die Möglichkeit einer ausnahmsweisen V2-Stellung (im Wackernagelschen Sinne) unter bestimmten, klar angebbaren Sonderbedingungen eingeräumt (vgl. Delbrück 1907, 1911:6).
[12]Als ein Beispiel führt Delbrück (1900:58, auch bereits 1878:19) u.a. den folgenden altindischen Beleg (i) – hier wie in Lehmann (1974:31) zitiert – an:
(i) vía katríyya balí haranti
villagers to-prince tax they-pay
‘The villagers pay taxes to the prince.’
[13]In diesem Sinne äußern sich z.B. Ries (1880, 1896:285, 1907:29), McKnight (1897a:146, 217), Sweet (1898:5), Falk/Torp (1900:283), Nygaard (1900:210f., Anm. 1), Reis (1901:219, 348f.), Sommer (1925:118), Kuhn (1933:66). Vorsichtiger etwa Biener (1922b:168).
[14]So auch Grace (1971:365), Lehmann (1972:241, 246; 1974 passim, u.a. 50, 113f., 238f.; 1993:205), Daly (1973), Kossuth (1978:42), Yoshida (1982), Nyström/Saari (1983:19), Lenerz (1984:150), Robinson (1992:165), Lass (1994:218), Luraghi (1995:355).
[15]So auch Stockwell (1977:291), Kiparsky (1995:161), Luraghi (1995:355, 382).
[16]Delbrück (1900:81) stellt fest, daß “die Anfangsstellung des Verbums in der [indogermanischen] Grundsprache okkasionell war”. – Die Termini ‘habituell’/‘okkasionell’ sind nach Delbrück (1911:69f.) wie folgt zu verstehen: “Es soll mit ihnen nicht behauptet werden, daß die okkasionelle Stellung der Tradition enthoben sei, sondern daß die Sprechenden auch in bezug auf die Verbalstellung das Gefühl haben, die eine sei die übliche, die andere trete nur in besonderen Fällen ein”, wobei die erstere die habituelle, die letztere die okkasionelle Stellung ist. Vgl. a. Delbrück (1878:76ff., 1920:53ff.).
[17]So auch bereits Hermann (1895:503), Berneker (1900:158), Falk/Torp (1900:283), Brugmann (1904:684), Fischer (1924:204); ebenso Watkins (1963:4, 1976:315f.), Grace (1971:375), Burridge (1993:226, Anm. 2).
Inga kommentarer:
Skicka en kommentar