Der Verb-erst-Deklarativsatz in sprachgeschichtlicher und sprachvergleichender Perspektive
4.2. Das Jiddische
Zur V1-Stellung im DS der älteren Stadien des Jidd. sollen zunächst folgende Beobachtungen festgehalten werden: Im Westjidd. ist sie “als stilneutrale Konstruktion leidlich lebendig geblieben” (Timm 1986:9);[1] nach Santorini (1989:77) tritt sie in der Geschichte des Westjidd. nur marginal auf. – Das Ostjidd. ist erst ab etwa 1600 gut überliefert (s. Timm 1986:6); schon von Beginn der Überlieferung an finden sich hier V1-DS (Santorini 1989:77).[2]
Der V1-DS ist dabei nach Hall (1979:273, Anm. 13) im Jidd. als “an Indo-European survival” zu betrachten, also keinesfalls etwa als Neuerung des Jidd. gegenüber anderen germ. Sprachen. Auch eventuelle Hypothesen, die für die Erklärung des V1-DS auf nichtgerm. Sprachkontakt Bezug nehmen, dürften hier nicht zutreffend sein.[3]
Auch in der heutigen jidd. Sprache ist der V1-DS häufig anzutreffen.[4] Santorini (1995:61) zählt ihn zu den “characteristic features of modern colloquial Yiddish”. Aber nicht nur im gesprochenen Jidd. kommt der V1-DS vor: Der Typ ist “a part of both everyday speech and of conscious literary narrative” (Hall 1979:274, Anm. 14).[5] Einige Beispiele:[6]
(A:52) Fregt er baj di ssochrim: “[…]” Entfert men im: “[…]” Is Frojim zugegangn zu der kasse, gekojft a bilet far anderhalbn guldn, un arojss ojf dem peron. Ss-kumt on der zug. […] Fregt er a ssojcher: “[…]” Hert er an entfer: “[…]” Git Frojim dem konduktor a halbn guldn. […] Krichn di jidn unter di benk, kricht mit sej ojch Frojim.[‘Fragt er bei den Kaufleuten: “[…]” Antwortet man ihm: “[…]” Ist Ephraim (zu)gegangen zu der Kasse, gekauft ein Billett für anderthalb Gulden, und heraus auf den Perron. 's kommt an der Zug. […] Fragt er einen Kaufmann: “[…]” Hört er eine Antwort: “[…]” Gibt Ephraim dem Kondukteur einen halben Gulden. […] Kriechen die Juden unter die Bänke, kriecht mit ihnen auch Ephraim.’] (aus: Landmann 1964:136ff.)(A:53) Zey hobn beyde gehat gedint in soldatn, hobn zey gekent shisn.[‘They had both served as soldiers, so they knew how to shoot.’] (Santorini i.V.:84f.)(A:54) Volt ikh geven a rov, ken ikh nit keyn toyre.[‘I would be a rabbi, but I don't know the Torah.’] (Santorini i.V.:85f.)
4.3. Das Niederländische
Interessanterweise ist einer der ältesten überlieferten Belege der nl. Sprache überhaupt ein DS mit V1-Stellung; van Kerckvoorde (1993:174) spricht von “the oldest Dutch sentence”. Es handelt sich um die sog. probatio pennae aus dem 11. Jh.;[7] dieser altnl. Satz lautet:[8]
(A:55) Hebban olla uogala nestas hagunnan hinase hi[c] [e]nda thu uu[at] [u]nbida[n] [uu]e nu [‘All birds have begun their nests except for me and you. What are we still waiting for?’] (van Kerckvoorde 1993:174)[9]
(A:56) Sprac der Gawein: het dunct mi goet, here, dat gi hebt geseit. (bei Stoett 1909:1)(A:57) Jeghen den steen is goet gheten senpoer, suuert hi den vrouwen.[‘For stones (in the kidneys), mustard powder is good eaten, it cleanses women.’] (um 1450, bei Burridge 1993:28)
We find V1 sentences in a declarative [illocutionary] role […] As such, V1 sentences are by no means marginal in every day's speech. [They] exhibit a stylistically marked but far from unusual way of reporting a sequence of events that is essentially declarative (Cremers/Sassen 1983:41f., Hervorh. OÖ)
(A:58) Komt Anna binnen, steekt ze een sigaret op, wordt Karel ontzettend kwaad. [‘Comes Anna in, lights she a cigaret, gets Karel terribly angry.’] (bei Cremers/Sassen 1983:41)
(A:59) Ging ik laatst naar De Swart. Raakte ik aan de praat met die advokaat, die dronkelap. [‘Went I to De Swart's. Got I into a chat with that lawyer, that alcoholic.’] (den Besten 1983:62)
(A:60) Sprak daar niet Piet Hein een alwarig woord (Piet Hein-Lied, bei Overdiep 1949:523)
Abschließend kann also festgehalten werden, daß das Nl. die Möglichkeit der V1-Stellung im DS ebenfalls kennt. Sie ist aus verschiedenen Stadien der Sprachgeschichte belegbar. Im heutigen Nl. ist der V1-DS ein durchaus vorkommender Satztyp, wenn er auch hauptsächlich auf die gesprochene Sprache beschränkt sein dürfte.
An dieser Stelle ist auch sehr kurz auf das im Prinzip auf der Grundlage des Nl. entstandene Afr. einzugehen. Deklarative V1-Stellung scheint im Afr., wie im verwandten Nl., durchaus möglich zu sein. Ponelis (1993) führt mehrere Belege an, u.a. folgendes mit einer Sequenz von V1-DS:
(A:61) … Is Pieta gekomen. Is wij gereden om te schieten. Heef Pieta een wilde bees geschoten. Is en bees vrekt.[‘Pieta came. We rode out hunting. Pieta shot a gnu. A cow died.’] (Ponelis 1993:318)
[1]Westjidd. Belegquellen ab etwa 1600 bis in dieses Jh. hinein werden bei Timm (1986:9, Anm. 37) angeführt.
[2]Belege aus dem Jahre 1614 bei Timm (1986:9), vgl. von Polenz (1991:297f.).
[3]Hall (1979:273, Anm. 13) schließt bezüglich des V1-DS im Jidd. jeglichen slawischen bzw. hebräisch-aramäischen Einfluß aus. In den entsprechenden Abschnitten bei Santorini (1989:22ff.) wird ein Einfluß dieser Sprachen(-gruppen) im Bereich der V1-Stellung nirgends erwähnt. Unerwähnt bleibt ein solcher auch bei Weinreich (1980:532), wo eventueller slawischer Einfluß auf die Satzstruktur des Jidd. behandelt wird. Vgl. a. Weinreich (1958:383).
Dagegen könnte man sich natürlich überlegen, ob die Verwendung der in der Sprache von alters her vorhandenen V1-DS im Ostjidd. durch das Vorkommen entsprechender Strukturen in den umgebenden slawischen Sprachen sozusagen indirekt gestützt worden ist. Man vergleiche, daß die V1-DS im überlieferten Westjidd. offenbar seltener sind, eventuell deswegen, weil dies eine derartige “Stütze” nicht besaß – die hauptsächliche Koterritorialsprache des Westjidd., das Dt., stand ja in seiner schriftlichen Ausprägung dem V1-DS vielfach ablehnend gegenüber.
[4]Als im Jidd. sehr häufig wird der V1-DS von Timm (1986:9) und Santorini (i.V.:83) bezeichnet; vgl. von Polenz (1991:297f.). S.a. Santorini (1989:60, 1994:87), Sigur›sson (1990:41), wo festgehalten wird, daß deklarative V1-Stellung im Jidd. produktiv ist.
[5]Ob er gar als “the most rhetorically unmarked sentence” (Hall 1979:282) gelten kann, sei hier jedoch dahingestellt.
[6]Die Beispiele illustrieren jeweils verschiedene Funktionen von V1-DS im Jidd. – die narrative, die konkludierende sowie die adversative Funktion. Vgl. hierzu Kapitel 3., Abschnitt 3.2.
[7]Mit Reproduktion des Originals vorgestellt in Schönfeld (1933). S. van Loey (1970:253), Donaldson (1983:127), Robinson (1992:205).
[8]Nach Weerman (1989:183) “O[ld] D[utch] 12th century”. Gerritsen (1984:123) nennt den Satz gar “the only Old Dutch sentence that has been handed down to us”.
[9]“Literal translation: Have all birds begun nests except I and thou” (Donaldson 1983:127, Anm. 18).
[10]In Burridges verschiedenen mnl. Teilkorpora (s. statistische Angaben 1993:25f.) machen sie bis zu 4% der selbständigen DS aus. – Overdiep (1949:519) erwägt die Möglichkeit, daß V1-DS im gesprochenen Mnl. häufiger gewesen sind als in der Schriftsprache; vgl. die Überlegungen zum Mhd. oben.
[11]Vgl. dazu Verdam (1908:3, Anm. 1). Weitere mnl. Belege (ebd.:282) sowie bei Overdiep (1949:519), Burridge (1993:27ff., 164ff.). Belege aus dem Nl. des 16. Jh. bei Overdiep (1949:519f.).
[12]Vgl. a. van Kemenade (1987:44) zu V1-DS im Nl.: “being characteristic of the spoken language, it is doubtful whether such sentences are found with any frequency in a corpus of written texts”. – Für wertvolle Hinweise zum V1-DS des Nl. bedanke ich mich bei Lektor G. Otterloo, Göteborg.
[13]S. auch Belege aus dem Erstspracherwerb im Nl. bei Jordens (1990:passim).
[14]Ein weiteres Beispiel mit einer narrativen Sequenz von V1-DS gibt Jansen (1981:123).
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