Der Verb-erst-Deklarativsatz in sprachgeschichtlicher und sprachvergleichender Perspektive
2. Zum ältesten Germanischen
Das Germanische ist eine der Sprachfamilien, die sich aus dem Indogermanischen heraus entwickelt haben. In bezug auf die Verbstellung kann angenommen werden, daß das älteste Germanisch – wie auch andere indogermanische Tochtersprachen, s.u. – zunächst die Verbstellungsopposition Verb-letzt-/Verb-erst-Stellung (= VL-/V1-Stellung) aus dem Indogermanischen übernommen hat; vgl. Abschnitt 2.1. zum Urgermanischen.
Was die weitere Entwicklung der Verbstellung im Germanischen betrifft, so muß das Ostgermanische, das vornehmlich durch das Gotische repräsentiert ist, offenbar gesondert behandelt werden.
Es scheint, als habe sich das Ostgermanische von den übrigen germanischen Sprachen zu einem Zeitpunkt getrennt, als wichtige Veränderungen in der Verbstellung der letzteren Gruppe noch nicht ihren Anfang genommen hatten.
Vgl. hierzu Kufner (1972);[1] dieser spricht von
continued common development of the remaining Gmc. tribes with many shared innovations […] between the 1st and 5th centuries. […] we must assume that the Goths left a largely undifferentiated linguistic area when they emigrated to the southeast. […] Most recent research dates the crucial separation developments as late as the 4th and 5th centuries […] as a result of the preceding and ongoing tribal migrations. (Kufner 1972:96)
In den west- und nordgermanischen Sprachen beginnt um das 6. Jh. n. Chr. eine Entwicklung der Verbstellung im selbständigen DS in Richtung V2-Stellung, deren Ausläufer bis auf den heutigen Tag reichen und für die Gesamtheit dieser Sprachen charakteristisch ist. Es kann vermutet werden, daß diese Entwicklung auf der Basis der aus dem Indogermanischen über das Urgermanische übernommenen Verbstellungsopposition VL/V1 stattgefunden hat. Vgl. weiter den Abschnitt 2.3. unten.
Die hier kurz vorgestellten Hypothesen zur Verbstellung in den ältesten Stadien des Germanischen werden im folgenden anhand der Fachliteratur überprüft. Hierbei wird jeweils die grundlegende Verbstellung und insbesondere die Möglichkeit der V1-Stellung im selbständigen DS betrachtet.
2.1. Zum Urgermanischen
Es gibt keine sprachlichen Quellen aus der Zeit, für die man die Existenz einer gemeinsamen germanischen Sprache – die sich neben anderen Sprachengruppen aus dem Indogermanischen entwickelte – ansetzt.[2] Diese Sprache wird häufig mit ‘Urgermanisch’ oder ‘Gemeingermanisch’ bezeichnet.[3]
Den Hintergrund dafür, von der tatsächlichen Existenz einer solchen Sprache auszugehen, kann man mit den Worten Ramats (1981) anschaulich wie folgt skizzieren:
Die Ähnlichkeit zwischen den sogenannten germanischen Sprachen wird auf historische Weise erklärt. Diese Sprachen gehen auf einen gemeinsamen Ursprung zurück, sie sind also entwicklungsgeschichtlich miteinander verwandt. Der gemeinsame Ausgangspunkt ist allerdings, im Unterschied etwa zu den romanischen Sprachen, nicht dokumentiert. Aber gerade in Analogie zum Übergang vom Lateinischen zu den verschiedenen romanischen Volkssprachen müssen wir auch für die Entwicklung der germanischen Sprachen als Erkenntnismodell hypothetisch die Ableitung von einer (relativ) einheitlichen Ausgangsphase ansetzen. (Ramat 1981:2, Hervorh. i.O.)
Laut Schneider (1938:3) gehen “die Meinungen über die urgerm[anischen] Verbstellungsverhältnisse gänzlich auseinander”. Wie in der Diskussion der Verbstellung des Indogermanischen, so gibt es auch bezüglich des urgermanischen selbständigen DS hauptsächlich drei Hypothesen: V1-, V2- und VL-Stellung.[4]
Schneider (1938) ist, wie schon oben in 1. erwähnt, Verfechter der These vom Typ der V1-Stellung als dem “Hauptsatzurtyp”. So nimmt er auch für die urgermanische Zeit diesen als den grundlegenden an: “Wenn schon ein Typ urgerm[anisch] irgendwie habituell war, dann war es nur Typ 1: die Anfangsstellung des Verbs” (ebd.:48). Mit dieser Ansicht steht Schneider jedoch m.W. allein.
Delbrück (1900:68) betrachtet für das Urgermanische die V2-Stellung als die grundlegende:[5] “Das Gewöhnliche ist im Germanischen die Stellung: Subjekt, Verbum, Übriges. Und sie ist so verbreitet, dass man annehmen möchte, sie sei schon im Urgermanischen vorhanden gewesen”. In der neueren Forschung hat diese Position jedoch kaum Anhänger gefunden; einer der wenigen moderneren Vertreter der V2-Hypothese zum Urgermanischen ist Werth (1970:26),[6] vgl.: “we must assume that PGmc [= Proto-Germanic] selected the FV-2 position as normal”.[7] [8]
Die in der Forschung am weitesten verbreitete Hypothese zur grundlegenden Verbstellung im urgermanischen selbständigen DS ist die Annahme der VL-Stellung. Schon nach Ries (1907) ist offensichtlich,[9]
daß aus den Tatsachen der älteren germanischen Wortstellung nur auf eine urgermanische Endstellung des Verbums zu schließen ist. […] so empfiehlt sich die Hypothese von der urgermanischen Schlußstellung des Verbums so sehr und so ausschließlich, daß wir sie als die einzig mögliche auch dann anerkennen müßten, wenn sie mit den Ergebnissen der vergleichenden indogermanischen Forschung in Widerspruch stände. (Ries 1907:29, Hervorh. OÖ)
Zusammenfassend scheint es also, wie im Falle des Indogermanischen, auch für das Urgermanische der Zeit vor den ersten einzelsprachlichen Quellen des Germanischen schwierig, letztlich eine grundlegende Stellung des Verbs auszumachen, wenn auch – nicht zuletzt in der neueren Forschung – mehrheitlich für die VL-Stellung plädiert wird. Wie auch in bezug auf das Indogermanische, so kann man also für das Urgermanische von der VL-Stellung als der grundlegenden Verbstellung ausgehen. Auch hier ist jedoch wie oben zum Indogermanischen zu betonen, daß das Fehlen von schriftlichen Quellen eine definitive Stellungnahme als weniger ratsam erscheinen läßt. Wieder ist für die vorliegende Untersuchung v.a. wichtig, daß für das Urgermanische einmütig auch die Möglichkeit der V1-Stellung im DS angenommen wird.
Wenning (1944) stellt fest, daß V1-Stellung im DS ohne den geringsten Zweifel bereits im Urgermanischen existiert hat.[14] de Boor (1922:10) konstatiert, daß “die Anfangsstellung des Verbums in urgerm[anischer] Zeit eine grosse Ausdehnung gehabt hat”.[15] Deklarative Strukturen konnten im Urgermanischen V1-Stellung aufweisen:[16] “Not only special sentence-types such as questions and imperatives, but also statements could under some circumstances have the finite verb in the head position” (Hopper 1975:51). Schon früh ist festgehalten worden, daß die V1-Stellung im Urgermanische – wie bereits im Indogermanischen, s.o. – die markiertere Verbstellungsvariante war. Es kann angenommen werden, daß die Opposition ‘markiert’/‘unmarkiert’ durch die Verbstellung signalisiert wurde.[17] Die beiden Typen ‘markiert’/‘unmarkiert’ werden durch die Stellung des Verbs an den jeweils entgegengesetzten peripheren Positionen des Satzes deutlich voneinander abgesetzt.[18] Diese Opposition kann als aus dem Indogermanischen ererbt gelten (Smith 1971:291);[19] vgl.: “Proto-Germanic inherited the Proto-Indo-European contrast in verb position between a neutral and a marked clause. In both periods the basic syntagm was: final verb in the neutral, initial verb in the marked clause” (Hopper 1975:58).
Neben der VL-Stellung[20] hat es also im Urgermanischen die V1-Stellung als markierte Verbstellung gegeben. Sie scheint in verschiedenen Satz- und Äußerungsarten verwendbar gewesen zu sein, u.a. auch im DS. Die Verwendung der VL-Stellung als der unmarkierten und der V1-Stellung als der markierten dürfte Indogermanisch und Urgermanisch gemeinsam gewesen sein. Demnach bestätigt sich in der Literatur die oben angesetzte Hypothese.
In diesem Zusammenhang kann auch, notwendigerweise jedoch nur sehr kurz, auf interessante Evidenz aus einigen anderen Sprachengruppen hingewiesen werden, die – wie das Urgermanische – zeitlich auf das Indogermanische folgten und sich auf dessen Grundlage entwickelten. Hier bestätigt sich nämlich die Tendenz zur Übernahme der Verbstellungsopposition VL/V1 aus dem Indogermanischen.
Auch das Lateinische hat die Verbstellungsmöglichkeiten VL bzw. V1 aus dem Indogermanischen übernommen. Vgl. Hofmann/Szantyr (1965:403): “im Lat. begegnet von Anfang an sowohl End- als Anfangsstellung”; so auch Watkins (1964:1039). Dabei ist die unmarkierte Stellung VL.[21] Zum hohen Alter der lateinischen V1-Stellung, s. Kroll (1918:123), Linde (1923:153).[22] Im ältesten Griechisch dürfte ebenfalls VL-Stellung grundlegend sein, s. Fischer (1924), Watkins (1976:317);[23] neben dieser wird jedoch auch die V1-Stellung verwendet.[24] Nach Berneker (1900:58f.) gab es im Urslawischen nur V1- bzw. VL-Stellung des Verbs, während die V2-Stellung eine spätere Entwicklung darstellt.[25] Die V1-Stellung ist dabei als die markiertere Verbstellungsmöglichkeit zu betrachten.[26] Im Litauischen ist VL-Stellung im selbständigen Satz grundlegend; sie ist auch die älteste belegte Verbstellung (Lehmann 1993:203). Daneben findet sich v.a. in Erzählungen V1-Stellung häufig (Schwentner 1922:10ff.).[27] Watkins (1964:1040f.) zufolge zeigt das älteste Irisch (“archaic Old Irish”) ausschließlich V1- und VL-Stellung. Diese sind als Erbe aus dem Indogermanischen zu interpretieren: “we may assume that the two opposed patterns for the simple verb […] are in Old Irish direct inheritances from Indo-European times” (Watkins 1963:36).[28]
Somit stellt offenbar das Urgermanische unter den Tochtersprachen des Indogermanischen keinen Einzelfall dar. Die Übernahme der Verbstellungsopposition VL/V1 scheint vielmehr recht weit verbreitet zu sein.
2.2. Zum Gotischen
Einleitend ist hier kurz voranzustellen, daß in bezug auf den Wert der auf die Nachwelt gekommenen gotischen Texte[29] für syntaktische und insbesondere Wortstellungsuntersuchungen Uneinigkeit besteht. Dieses kontroverse Feld kann hier selbstverständlich keinesfalls aufbereitet werden, doch ist es für die weitere Erörterung hilfreich, die Standpunkte kurz zu erläutern.[30]
Grob gesehen, lassen sich zwei Positionen unterscheiden: Die eine spricht in ihrer extremen Ausprägung den gotischen Texten jegliche Relevanz für die Diskussion der Wort- und v.a. Verbstellung ab, da es sich bei diesen größtenteils um Übersetzungen handele; dies gilt v.a. für die Bibelübersetzung Wulfilas, die sich in der Wortstellung relativ eng an eine (uns allerdings unbekannte) griechische Vorlage anschließt.[31] So war beispielsweise bereits McKnight (1897a:147) der Ansicht: “For the study of word-order, Wulfila is of little value”, denn die gotische Bibelübersetzung zeige “not the word-order of Gothic of that period, but that of New Testament Greek”. Ähnlich kritischer Einstellung begegnet man in der Fachliteratur recht häufig;[32] so betont auch Fourquet (1938), daß das Gotische der Bibelübersetzung für die Bestimmung der germanischen Wortstellungsverhältnisse nicht geeignet sei.[33]
Die andere Position erkennt demgegenüber den gotischen Übersetzungszeugnissen einen Wert für das Gewinnen von Erkenntnissen zur Wort- und auch zur Verbstellung zu.[34] In diesem Zusammenhang wichtig ist der folgende Hinweis Braunmüllers (1982:142): Zwar ist nicht auszuschließen, daß in geistlicher Literatur prinzipiell archaisierende oder anderweitig markierte, für die übrige Sprache nicht unbedingt typische Wortstellungsmuster vorkommen, vgl. (ebd.:122f.). Die gotische Bibelübersetzung konnte jedoch die dort im selbständigen DS vorherrschende V2-Stellung aller Wahrscheinlichkeit nach nur dann aus dem Griechischen übernehmen, wenn das Gotische diese Möglichkeit der Verbstellung ebenfalls (zumindest potentiell) besaß – wobei diese natürlich nicht unbedingt die grundlegende Stellung des Verbs im Gotischen gewesen sein muß:[35] “Es ist nämlich fraglich, ob eine Bibelübersetzung mit durchweg ‘ausländischer’ und damit nicht-normaler Wortstellung als gotischer Text überhaupt akzeptabel gewesen wäre” (ebd.:142; Hervorh. i.O.).
Interessant für eine Auswertung der Verbstellung der gotischen Bibelübersetzung könnten wohl v.a. Stellen sein, wo entweder das Gotische mehr Wörter verwendet als das griechische Original und sie folglich vom Vorbild unabhängig linearisieren kann, oder solche, an denen die Wortstellung vom Original abweicht (vgl. Hopper 1975:23). Indes, “such passages are not numerous”, wie schon McKnight (1897a:147) beklagt.[36] Sie geben auch für die hier interessierende Frage der Verbstellung kaum etwas her (vgl. ebd.:147ff.).
Im Gegensatz zur, wie skizziert, mehrheitlich kritischen Einstellung gegenüber dem Wert der Bibelübersetzung Wulfilas für die Rekonstruktion der gotische Wortstellung hat man neuerdings dem gotischen Johanneskommentar, der sog. Skeireins,[37] in der Regel größere Bedeutung beigemessen; vgl. z.B. Smith (1971:36ff.), Schrodt (1983:116).[38] Ebel (1978:82) stellt sehr deutlich fest, “daß der Skeireinstext sich seiner Struktur nach so grundlegend von Wulfilas Bibelübersetzung […] unterscheidet, daß es sich auf keinen Fall um eine wörtliche Übersetzung aus dem Griechischen oder Lateinischen handeln kann”. So ist vielfach angenommen worden, daß die Skeireins ein idiomatischeres Gotisch repräsentiert als die gotische Bibelübersetzung.[39]
Vor diesem recht komplexen Hintergrund soll in der vorliegenden Arbeit in bezug auf die Verbstellungsevidenzen aus der gotischen Bibelübersetzung Zurückhaltung geübt werden.[40] Die Skeireins dürfte demgegenüber jedoch gute Möglichkeiten bieten, Erkenntnisse zur Verbstellung des Gotischen zu gewinnen.
Ebel (1978) analysiert in ihrer Untersuchung der Skeireins auf der einen Seite die Zitate aus dem Neuen Testament, auf der anderen Seite den übrigen Text – eine wichtige, von den früheren Untersuchungen zur Wortstellung der Skeireins oft gar nicht oder zumindest nicht deutlich genug vorgenommene Unterscheidung. Sie gelangt zum Schluß, daß in bezug auf das Verhältnis Objekt–Verb in der Skeireins
ein deutlicher Unterschied zwischen der Wortfolge der Bibelzitate und der des übrigen Textes zu erkennen [ist]. Während die Bibelzitate in Anlehnung an die griechische Vorlage eine VO-Folge aufweisen, zeigt die Wortfolge im übrigen deutlich OV-Stellung. (Ebel 1978:80)[41]
Dies deutet auf VL-Stellung als grundlegende Verbstellung im Gotischen hin. Die V2-Stellung ist in der Skeireins selten (Smith 1971:125f.); “the most common sentence pattern has the verb in final position” (ebd.:171).[42]
Neben der VL-Stellung kommt in der Skeireins auch die V1-Stellung vor; nur am Rande sei hier vermerkt, daß diese Stellung auch in der Bibelübersetzung auftritt.[43] [44] Ebel (1978:55ff.) zählt in ihrer Diskussion der Verbstellung in der Skeireins – die sie allerdings ausschließlich mit Bezug auf “nicht-emphatische Aussagesätze” führt[45] – insgesamt sieben Belege aus der Skeireins auf, in denen “Abweichungen von der S[ubjekt–]V[erb]-Folge” vorliegen (wovon vier DS mit V1-Stellung, drei solche mit V2-Stellung sind).[46] Von den vier V1-DS[47] stammt einer aus dem Text ohne griechische oder lateinische Vorlage (das finite Verb ist hier und im folgenden jeweils kursiviert):[48]
(A:1) wasuh þan jah frauja þo ahmeinon anafilhands daupein eiþan garaihtaba warþ bi swiknein sokeins gawagida (Skeireins IIIb 17f.) [‘And at that time also the Lord was recommending spiritual baptism, so that a question about purification was properly raised.’](A:2) ist magula ains her saei habeiþ … (Skeireins VIIa 8f.) [‘There is a certain boy here who has …’](A:3) galiþun þan þai andbahtos du þaim auhumistam gudjam jah fareisaium (Skeireins VIIIa 11f.) [‘Then the officers went to the chief priests and Pharisees.’](A:4) andhofun þan þai andbahtos qiþandans: … (Skeireins VIIIa 19f.) [‘Then the officers answered with the words: …’]
Zu diesen vier Belegen bei Ebel kann noch ein weiterer hinzugefügt werden, auf den in der Literatur immer wieder hingewiesen worden ist:[50]
(A:5) skulum nu allai weis at swaleikai jah swa bairhtai insahtai gþa unbauranamma adsaljan sweriþa (Skeireins Vc, 20ff.) [‘Now at such a manifest declaration, we all must render honor to the unborn God.’]
Zusammenfassend läßt sich festhalten: in den spärlich überlieferten Texten des Gotischen, die nicht als Übersetzungen zu gelten haben, gibt es eine deutliche Tendenz zur VL-Stellung. Daneben existiert jedoch auch – der wenig umfangreichen Überlieferung zum Trotz mehrfach belegt – der Typ der V1-Stellung.
Selbst eingedenk der Vorbehalte, die sich angesichts der Überlieferungslage anmelden, kann als plausibel angenommen werden, daß diese Charakteristik des Gotischen die Verhältnisse des älteren Germanischen widerspiegelt; dies hatte – wie oben erläutert – die Verbstellungsopposition VL-/V1-Stellung aus dem Indogermanischen bzw. Urgermanischen übernommen. Das Gotische als die älteste überhaupt belegte germanische Sprache repräsentiert diese Situation noch in relativ unveränderter Form. Die Herausbildung der V2-Stellung zur Normalstellung des selbständigen Satzes gehört erst jüngeren Stufen der germanischen Sprachengruppe an; das Vorliegen der V2-Stellung im Bibelgotischen kann aufgrund des engen Anschlusses an die griechische Vorlage nicht als für das Gotische repräsentativ gelten.
[1]Ähnlich Ramat (1981:6, 13); vgl. Marchand (1955), Henriksen/van der Auwera (1994:2).
[2]Zum Problem der Annahme bzw. Rekonstruktion einer urgermanischen Grundsprache vgl. u.a. Antonsen (1965), Polomé (1972:44f.), Kufner (1972:73), Braunmüller (1982:256ff.), Donaldson (1983:126), Penzl (1986:16f.).
[3]Vgl. a. Ramat (1981:3): “Das ‘Gemeingermanische’ ist […] eine wissenschaftliche Abstraktion, die Summe von Informationen, die aus den historisch bezeugten germanischen Sprachen erschlossen werden kann”.
[4]Daneben noch Braune, der zur Verbstellung im Urgermanischen der folgenden Ansicht war: “das Verbum konnte sowohl im Hauptsatze als im Nebensatze ganz beliebig am Anfang, in der Mitte und am Schluß stehen” (1894:50). Kritisch hierzu v.a. Ries (1907). Vgl. a. Ureland (1989:254), der eine nicht völlig fixierte Verbstellungssituation im Urgermanischen anzunehmen scheint: “it is likely that Proto-Germanic […] was vacillating between an SVO and an SOV type”.
[6]Werth (1970:33) räumt selbst ein: “It is true that the syntactic patterns of the earliest Germanic records do not necessarily represent the Proto-Germanic situation” – dennoch zieht er seine Schlüsse zur Verbstellung im Urgermanischen aus den Verhältnissen in den ältesten schriftlichen Quellen der verschiedenen germ. Einzelsprachen. – Der Beitrag Werths (1970) arbeitet nach dem Urteil Schrodts (1983:116) “ohne zureichende Beweisführung”.
[7]Mit ‘FV-2’ ist hier die Zweitstellung des finiten Verbs gemeint. – Die VL-Stellung als Grundtyp ist nach Werth (ebd.:27) in eine Zeit vor dem Urgermanischen bzw. dem ‘Proto-Germanic’ zu verlegen, die er mit “‘pre-Germanic’ or, at the most, ‘early PGmc [= Proto-Germanic]’” bezeichnet.
[8]Friedrich (1975:32) setzt für (u.a.) das Urgermanische die Abfolge SVO als grundlegend an, was auch V2-Stellung mit einschließen kann: “we find […] that Proto-Germanic, Albanian, and Old Armenian are all SVO”. In ähnlicher Weise spricht er (1976:471) von “the basically SVO systems of Albanian and Proto-Germanic”. Zu der fundamentalen Kritik an Friedrich, vgl. oben in Abschnitt 1. dieses Appendix sowie Watkins (1976:310).
[9]Vgl. a. (ebd.:27). So ist auch Delbrück (1920:35) der Ansicht. daß “in den germanischen Hauptsätzen das Verbum einstmals am Ende gestanden hat”; vgl. a. (ebd.:41, 54; 1911:74) sowie schon Ries (1880:88).
[10]S. z.B. McKnight (1897a:146), Neckel (1908:476), Hübener (1916:289, Anm. 1), Redin (1925:203).
[11]Eine Stütze für die Annahme, der selbständige DS des Urgermanischen habe VL-Stellung aufgewiesen, sieht Ebert (ebd.:39) im “Vorkommen der Rahmenkonstruktion im Hauptsatz in den altgerm[anischen] Zeugnissen”.
[12]So auch Lenerz (1984:137), demzufolge dieser Wandel “bis ca. 900 abgeschlossen” ist, sowie Burridge (1993:213).
[13]Vgl. z.B. Lehmann (1972:241, 266), Hopper (1975:22, 47), Ramat (1975:30), Stockwell (1977:291, 296), Kossuth (1978:42), Kohonen (1978:19f.), Gerritsen (1980:123), Braunmüller (1982:140), Yoshida (1982:327), Bean (1983:43ff.), Schrodt (1983:116), Breivik (1989:61), Weerman (1989:162f.), Robinson (1992:165), Burridge (1993:226), Lass (1994:218), Kiparsky (1995:152).
[14]“Att en ursprunglig förstaplatsställning av verbet existerar redan på urgermanskt stadium är ställt utom allt tvivel” (Wenning 1944:23, Anm. 1, Hervorh. OÖ).
[15]Nach Nyström/Saari (1983:21) war sie “rätt frekvent”, d.h. recht frequent.
[16]Vgl. die Anmerkung Blümels (1914:35), daß im Urgermanischen “auch behauptendes kommst du” möglich war.
[17]Vgl. a. Fourquet (1938:13): “Le germanique primitif ne connaissait que deux positions du verbe: finale en ordre neutre, initiale en ordre expressif”.
[18]Hopper (1975:58) spricht von “maximal positional differentiation”. Auch Ebert (1978:37) erwähnt zum Urgermanischen die “Opposition zwischen Anfangsstellung und späterer Stellung des Vf [= verbum finitum]”; ähnlich Watkins (1963:5), Bean (1983:46), Burridge (1993:223ff.).
[19]Hirt (1934:226) betont ganz allgemein: “die Stellung des Verbs im Urgermanischen ist in großem Umfang Erbe aus dem Idg.”. Zur V1-Stellung, s. Hopper (1975:58), Ebert (1978:37).
[20]Und eventuell einer im Laufe der Zeit erst allmählich aufkommenden Tendenz zur V2-Stellung, vgl. Delbrück (1911:14f., 74), Hopper (1975:58).
[21]“in early Latin many of the surface characteristics of SOV […] languages are to be found: […] the verb is almost invariably in the final position” (Hopper 1975:22; vgl. ebd.:46). So auch Richter (1903:7f.), Scaglione (1981:114); vgl. jedoch Pinkster (1991).
[22]Daß diese mit Emphase verbunden war, legt Jolly (1875:216) nahe: “Die gleiche Erscheinung findet sich bei den Römern, wenn der sonst abgemessene lateinische Stil in lebhafte Erzählung übergeht”.
[23]Vgl. Kieckers (1911:5), Hopper (1975:46).
[24]Nach Jolly (1875:215f.), Richter (1903:79f.) und de Dardel (1983:10) kommt V1-Stellung im Homerischen Griechisch vor; vgl. a. Fourquet (1938:277), Luraghi (1995:378). Zur Bedeutung der lebhaften Erzählung für die Anwendung der V1-Stellung im Griechischen, s. Fischer (1924:202).
[25]So auch Hopper (1975:45f.), Friedrich (1975:61f.), vgl. Stockwell (1977:291, 296), de Dardel (1983:10).
[26]Die V1-Stellung findet sich nach Berneker (1900) v.a. in lebhafter Erzählung.
[28]So auch Stockwell (1977:291, 296), vgl. a. Schmidt (1969:122), Dressler (1969:18f.), Smith (1971:1f.), Lehmann (1993:190).
[29]Vgl. z.B. die Zusammenstellungen zur Quellenlage etwa in Krause (1953:17ff.), Stutz (1966), Marchand (1970:97ff.) oder Braune/Ebbinghaus (1981:3ff.).
[30]Vgl. hierzu auch den allgemeinen Überblick in Stutz (1985).
[31]Vgl. Marchand (1970:119) (s. aber Stutz 1975:190), den Stand der Forschung zusammenfassend: “Die Meinungen der Gelehrten über den Grad der Beeinflussung durch die Vorlage teilen sich: einige glauben, daß unsere Texte ‘idiomatisches Gotisch’ darstellen, und andere betonen die sklavische Treue Wulfilas, so daß es scheint, die Forschung habe hier ein Impasse [sic] erreicht.”
[32]Man vergleiche z.B. die Ausführungen bei Metlen (1932), Hirt (1934:225), Dressler (1969:17), Hopper (1975:14, 50), Braunmüller (1982:123).
[33]“Au point de vue de la syntaxe de position, le gotique relève de l'étude comparative des langues indoeuropéennes plus que de l'étude des langues germaniques” (Fourquet 1938:284).
[34]In diesem Sinne etwa Werth (1970:29): “Even if it is a rather slavish rendering of a Greek ‘Vorlage’, there is no need to assume that it is not also, at the same time, representative of acceptable contemporaneous Gothic.” Behaghel (1955:9) äußert sich in ähnlicher Weise: “Diese Übersetzung […] bietet doch vielfach ein treues Bild der gotischen Redeweise.” Vgl. a. Curme (1911), Mueller (1930:10).
[35]Auch schon Braune (1894:50) hatte bemerkt: “Und wenn sich Ulfilas in seiner Uebersetzung hinsichtlich der Stellung des Verbums einfach an seinen griechischen Text hält, während er sonst doch in vielen syntaktischen Einzelheiten dem germanischen Sprachgefühle gegenüber dem griechischen gerecht wird, so wird das einfach den Grund haben, daß diese Stellungen der gotischen Sprache entsprechend waren, oder [ihr] zum mindesten nicht widerstrebten.” – Ähnlich auch Biener (1922b:168).
[36]S.a. Fourquet (1938:240, 1974:321).
[37]So genannt nach dem Titel Skeireins aiwaggeljons fiairh Iohannen (= ‘Erläuterung des Evangeliums nach Johannes’), mit dem der erste Herausgeber, Maßmann, den Text versah (vgl. Maßmann 1834, Braune/Ebbinghaus 1981:7).
[38]Zu der seit langem diskutierten Frage, ob die Skeireins als gotisches Originalwerk oder als Übersetzung einer (bisher unbekannten) Vorlage betrachtet werden soll, dürfte “das letzte Wort in der Diskussion über die Entstehung der Skeireins noch nicht gesprochen” sein (Ebel 1978:50).
[39]Fourquet (1938:279) findet in der Skeireins “un gotique bien plus idiomatique que celui de la traduction biblique” vor. Lenk (1910:305) nennt “die sprache der skeireins eine umgangssprache, die geschrieben, und eine schriftsprache, die gesprochen wird”; vgl. aber Bennett (1960:40ff.), Ebbinghaus (1963:131). McKnight (1897a:151) nimmt an, “that word-order in the Skeireins proper represents the Gothic word-order of that time (probably the fifth century)”. Auch Delbrück (1911:9f.) betont die Selbständigkeit der Skeireins auf dem Gebiet der Wort- (hier: Verb-)Stellung: “Daß aber das griechische Vorbild einen Einfluß auf die Stellung des Verbums geübt hätte, habe ich nicht gefunden.”
[40]Vgl. a. Weerman (1989:164), wo Daten aus dem Bibelgotischen, die für VO- bzw. OV-Stellung des Gotischen überhaupt sprechen, diskutiert werden: “the evidence for Gothic is neither in accordance with an OV nor with a VO order”. Vgl. a. (ebd.:179) sowie Falk/Torp (1900:284).
[41]So auch Smith (1971:82, 127); vgl. Schrodt (1983:116). Nach Lehmann (1994:34) gilt diese Tendenz auch in bezug auf weitere syntaktische Konstruktionen des Gotischen: “Gothic retained many patterns of object–verb (OV) syntax”. Beispiele (ebd.:34ff.).
[42]Auch andere Forscher, die nicht nach Bibelzitat und Kommentar trennen, setzen für die Skeireins generell die Tendenz an, im selbständigen Satz das Verb in Endstellung zu plazieren. McKnight (1897a:53) macht in der Skeireins “the tendency to place the verb after other members of the clause” aus. In diesem Sinne auch Lenk (1910:280): “Als eines der hauptcharakteristika der skeireinistischen wortstellung ist das streben des verbums gegen den satzschluss zu bezeichnen”. So auch Hammarström (1923:41), Bean (1983:51); ähnlich Ries (1907:24), Biener (1922b:168), Sommer (1925:119), Behaghel (1929:279), Wessén (1965:225), Dressler (1969:17).
[43]So auch Lollesgaard (1920:6); vgl. Fourquet (1974:321). – Von den wenigen gotischen Runeninschriften (s. Braune/Ebbinghaus 1981:9, vgl. Krause 1953:§19f.), die überhaupt syntaktisch auswertbar sind, zeigt nach Braunmüller (1982:123f.) nur eine V1-Stellung, und zwar die Inschrift aus der 2. Hälfte des 6. Jh. auf der Spange von Charnay (s. Krause 1966:20ff.): u(n)fif(i)nfiai Iddan Liano ‘Möge (das Mädchen) Liano den Idda herausfinden.’ Diesen Satz würde man wohl am ehesten als Heischesatz betrachten; die Verbform ist die der 3. Sg. Präs. Opt. (s. Krause 1966:22). (Der Gebrauch des Optativs geht im Bibelgotischen i.d.R. nicht mit V1-Stellung einher, vgl. Fourquet 1938:264).
[44]Bezüglich der gotischen Bibelübersetzung kann festgehalten werden, daß dort die V1-Stellung im DS offenbar selten ist: “Le grec met volontiers un verbe en tête de phrase […] Le gotique semble éviter cette position”, schreibt Fourquet (1938:277f.). Seine Untersuchungen anhand des Bibelgotischen “rendent peu probable que la phrase à verbe initial […] ait joué un rôle important en gotique”. Daß die V1-Stellung jedoch in selbständigen DS des Bibelgotischen durchaus auch vorkommen kann, geht bei Fourquet (ebd.) hervor; er gibt u.a. die folgenden Beispiele: wasuh flan nahts (Joh. 13, 30) ‘Und es war Nacht’, qafl flan du imma sa aggilus: … (Luk. 1, 13) ‘Der Engel sprach zu ihm: …’. Beispiele auch bei Mueller (1930:35, 55), vgl. Curme (1911:172ff.). Wie oben jedoch diskutiert, können angesichts der Übersetzungsproblematik aus dieser bibelgotischen Evidenz keine sicheren Schlüsse gezogen werden.
[45]Der – in diesem Zusammenhang nicht unwichtige Terminus – ‘nicht-emphatischer Aussagesatz’ wird bei Ebel (1978) leider nicht erläutert.
[46]McKnight (1897a:152) zählt “9 instances of inversion”; Ebels (1978) niedrigere Zahl könnte möglicherweise mit der o.g. Beschränkung auf ‘nicht-emphatische Aussagesätze’ zu tun haben.
[47]Lenk (1910:278), der der Ausgabe Maßmanns von 1834 folgt (mit gewissen Einschränkungen, vgl. ebd.:242, Anm. 2), findet jedoch “absolute anfangsstellung des verbums” in nur drei Fällen belegt. Vgl. McKnight (1897a:152).
[48]Stellenangaben und Übersetzung hier und im folgenden nach dem Standardwerk Bennetts (1960). Vgl. Ebbinghaus (1963), Marchand (1964).
[49]Vgl. zu (A:2) Joh. 6,9, zu (A:3) und (A:4) Joh. 7,45-46; s. Bennett (1960:75, 79). – Die gleichen Bibelstellen weisen in der Übersetzung Wulfilas ebenfalls V1-Stellung auf, vgl. die Ausgabe Streitbergs (1950). Krause (1953:§12) schreibt: “Die Bibelzitate der Sk[eireins] stimmen mit dem Ulfilanischen Text überein”; so auch McKnight (1897b:col. 207). Anders Ebbinghaus (1963:132f.): “the text of the Biblical quotations in Skeireins differs in some instances from the codex argenteus”.
[50]Auch dieser Beleg stammt aus demjenigen Teil des Textes, der nicht Zitat aus dem Neuen Testament ist. Er wird von McKnight (1897a:152), Lenk (1910:278), Delbrück (1911:17), Biener (1922b:169) als Beleg für deklarative V1-Stellung im Gotisch der Skeireins zitiert. Ebel (1978) führt diesen Beleg nicht an – eventuell faßt sie ihn als nicht zur Kategorie ‘nicht-emphatische Aussagesätze’ gehörig auf.
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