2.3. Das älteste Stadium der germanischen Einzelsprachen und ihre früheste Entwicklung
Oben wurde angenommen, daß die germanischen Sprachen, mit Ausnahme des Ostgermanischen, nach ursprünglicher Übernahme der Verbstellungsopposition VL/V1 aus den älteren Sprachstufen im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung die VL-Stellung zugunsten der V2-Stellung aufgegeben haben; die V1-Stellung hat dabei weiterexistiert, wobei sie im selbständigen DS z.T. auf bestimmte Verwendungsweisen beschränkt geblieben ist. Diese Hypothese soll im folgenden anhand der Fachliteratur kurz überprüft werden.
Warum das Germanische die Entwicklung in Richtung V2-Stellung im selbständigen DS vollzogen hat, weiß man nicht.[1] Möglich – und vielleicht auch natürlicher – wäre auf der Basis der übernommenen Opposition VL/V1 eine Entwicklung derart gewesen, daß die VL-Stellung als die grundlegende Stellung gewählt worden wäre – oder eventuell die V1-Stellung (wie im Inselkeltischen). Stattdessen führt das Germanische also die V2-Stellung als Neuerung ein und behält diese – mit gewissen Ausnahmen im Englischen – bis heute im selbständigen DS bei.
Zur Verbstellung im ältesten belegten Stadium der germanischen Sprachen
[2] und deren Wandel sind in der Literatur wichtige Bemerkungen gemacht worden, die die Sprachgruppe als ganze betreffen. Kufner (1972) nimmt an, daß sich die germanischen Stämme in sprachlicher Hinsicht bis zur Völkerwanderungszeit – also einer Zeit, aus der es nur in sehr begrenztem Ausmaß sprachliche Quellen gibt – relativ einheitlich entwickelt haben. Hinsichtlich der Verbstellung im selbständigen DS stellt das älteste Germanisch eine Übergangsstufe zwischen der für das Indogermanische und Urgermanische typischen VL-Stellung und der V2-Stellung, wie sie sich später in der überwiegenden Mehrheit der germanischen Einzelsprachen findet,[3] dar. Die Entwicklung führt dazu, daß die germanische Sprachengruppe sich in typologischer Hinsicht vom Typ Subjekt-Objekt-Verb (SOV) des Gemeingermanischen[4] allmählich zum Typ Subjekt-Verb-Objekt (SVO) hin wandelt:[5] Diesen typologischen Wandel wertet Braunmüller (1982) als ein sehr wichtiges Charakteristikum der germanischen Sprachengruppe:[6]Man könnte sogar überlegen, ob der allmähliche Übergang zu SVO als (unmarkierte) Wortstellungsnorm nicht als ein konstitutives Merkmal für die Herausbildung und Definition des Germanischen gewertet werden kann; neben der Festlegung des Wortakzents (als Druckakzent) auf der ersten Silbe, neben der 1. Lautverschiebung und neben der Entstehung des sog. schwachen Präteritums in Form eines Dentalsuffixes. (Braunmüller 1982:140)
Mit der Entwicklung in Richtung der V2-Stellung ist die Geschichte der germanischen Sprachen in ihrem weiteren Verlauf “voll und ganz von den Auswirkungen dieser entscheidenden typologischen Neuerung bestimmt” (Ramat 1981:207).
Fourquets (1938) vielzitierte und sehr einflußreiche ausführliche Darstellung der Wort- und v.a. der Verbstellung der ältesten Stufen der germanischen Sprachen gibt in übersichtlicher Form einen Überblick über diese Entwicklung; es werden mittels synchroner Schnitte (vgl. Schrodt 1983:118) fünf Stadien des älteren Germanisch unterschieden. Alle germanischen Sprachen (mit Ausnahme des ausgestorbenen Ostgermanischen) haben die vier ersten Stadien durchlaufen, wonach sie sich im fünften Stadium in die englische, deutsche bzw. skandinavische Sprache(ngruppe)n trennten.[7] Die fünf Stadien in skizzenhaftem Überblick, unter besonderer Berücksichtigung der Verbstellung:
1. état primitif: Als Vertreter dieses Stadiums nennt Fourquet die altnordischen Runeninschriften sowie das Gotische. Generelle Aussagen zur Stellung des Verbs in diesem Stadium macht Fourquet nicht; es wird aber ausdrücklich festgestellt, daß V1-Stellung möglich ist.[8]
2. état commun I: Dieses Stadium repräsentiert bei Fourquet der altenglische Beowulf; es besteht eine Opposition zwischen Sätzen mit V1-Stellung und Sätzen mit späterer Stellung des Verbs als V1.[9] Letzterer Typ ist der neutrale.[10] Ihm steht der “type expressif” gegenüber, “bien défini, caractérisé par le fait que le verbe est en tête de phrase” (Fourquet 1938:289). Die Wahl zwischen V1-Stellung und späterer Stellung des Verbs wird “zur Unterscheidung ‘intensiv/neutral’” getroffen (Fourquet 1974:322).
3. état mixte: Zu diesem Stadium gehören der erste Teil der Ags. Chronik (bis 891) und der altsächsische Hêliand. Es beginnt sich hier eine Variante der späteren Stellung, die V2-Stellung, zur Normalstellung des Verbs zu verfestigen.[11] Daneben bleibt aber die Möglichkeit der V1-Stellung weiter bestehen: “le type expressif à verbe initial subsiste” (1938:291).[12]
4. état commun II: Vertreter dieses Stadiums sind der zweite Teil der Ags. Chronik, der ahd. Isidor und die Edda. Das Stadium führt Entwicklungstendenzen des “état mixte” weiter, wobei der neutrale Typ in zwei Untergruppen zerfällt: die eine zeichnet der V2-Stellungstyp aus, die andere “un type à verbe ‘ultérieur’” (ebd.), also mit späterer Stellung im Satz als V2. Diese Aufteilung des neutralen Typs in zwei Untertypen bekommt grammatische Funktion, indem sie in zunehmendem Maße zur Unterscheidung zwischen selbständigen und abhängigen Sätzen verwendet wird. Wichtig: Die Möglichkeit der V1-Stellung besteht fort: “Il y a […] l'ancien type expressif à verbe premier”. (ebd.).
5. Das letzte Stadium bringt die Aufspaltung in verschiedene Sprachen bzw. Sprachgruppen (s.o.). Die V2-Stellung wird konsequent zum neutralen Typ verallgemeinert.[13] Die V1-Stellung nimmt an Verbreitung ab und wird nun auf bestimmte Äußerungstypen eingeschränkt: “Le type à verbe initial a décliné dans les trois groupes du germanique; il a été réduit à l'expression de l'interrogation, à quelques survivances près” (ebd.:293; vgl. Ebert 1978:37)
Fourquet in drei Punkten sehr knapp zusammenfassend, läßt sich folgendes sagen:
1. Beim Einsetzen der Überlieferung des Germanischen finden wir eine Opposition zwischen V1-Stellung einerseits und späterer Stellung des Verbs andererseits vor.[14]
2. Aus dieser Ausgangslage bildet sich dann allmählich – mit Ausnahme des Ostgermanischen – eine Differenzierung der Nicht-V1-Stellung in V2- bzw. Später-/VL-Stellung heraus, die dann im weiteren Verlauf auch für die Unterscheidung in selbständige bzw. abhängige Sätze nutzbar gemacht wird.
3. Dabei existiert der von Anfang an präsente V1-Stellungstyp als markierte Abfolge ununterbrochen weiter; er wird sodann im Verlauf der Aufspaltung der gemeingermanischen Sprache in Einzelsprachen auf bestimmte Satz- und Äußerungstypen festgelegt.
Nach diesen die altgermanischen Dialekte als Ganzheit betreffenden Bemerkungen werden im folgenden nun die grundlegende Verbstellung und – daran anschließend – die V1-Stellung der selbständigen DS in den germanischen Einzelsprachen jeweils für sich betrachtet. Mit Germanisch wird fortan das West- und Nordgermanische bezeichnet; das Ostgermanische ist, wie gesagt, ausgestorben. Von besonderem Interesse ist dabei zu verfolgen, inwieweit sich die V1-Stellung im selbständigen DS in den germanischen Einzelsprachen als eine Möglichkeit der Verbstellung hat halten können.
[1]Es gibt nur Vermutungen. Vgl. z.B. Hopper (1975:47): “The sentence-second or enclitic position was becoming generalized at the expense of the final and initial positions. The reason for this change was probably the increase in the number of light verbs which resulted from the growing tendency to express tense and mood by means of an auxiliary verb rather than by verbal inflection. There is also evidence that the enclitic verb often shared the positional characteristics of the particles and pronouns in appearing towards the beginning of the sentence”.
[2]Zur terminologischen Unklarheit in der Bezeichnung (u.a.) dieser Periode vgl. etwa Antonsen (1965), Ramat (1981:1ff., 8f.) und den Überblick in van Coetsem (1970:12ff., Anm. 1).
[3]Vgl. zu den heutigen germanischen Sprachen u.a. die Beiträge in Haider/Prinzhorn (1986) sowie in König/van der Auwera (1994).
[4]Vgl. Ramat (1981:187, 190, 199), Lenerz (1985a:117), Denison (1987:153).
[5]“the languages of the [Germanic] family move toward a more rigid SVO ordering” (Hopper 1975:96). So auch Smith (1971:138), Ramat (1981:189, 201, 205ff.), Ebert (1978:37), Kossuth (1978:37). Hinsichtlich dieser Wandlung verhält sich das Germanische offenbar ähnlich wie andere Sprachgruppen, die sich aus dem Indogermanischen heraus entwickeln: “The overall pattern of changes from P[roto-]I[ndo-]E[uropean] to the dialects is from an OV to a VO structure” (Lehmann 1974:250). Vgl. Ramat (1981:189).
[6]Vgl. a. Kiparsky (1995:159): “verb second […] was elaborated within Germanic in ways internally motivated within that family”.
[7]Vgl. Fourquet (1938:292, 1974:315), Schrodt (1983:118); s.a. Fleischmann (1973:230ff.), Lenerz (1984:135ff.)
[8]“il n'est pas interdit de penser que le verbe, comme d'autres mots autonomes, pouvait être mis en tête de phrase” (Fourquet 1938:288).
[9]Fourquet (1938:194, 1974:316).
[10]Er ist wie folgt charakterisiert: “Le type neutre n'a que cette caractéristique négative: le verbe n'y est pas premier; il est à une place quelconque, pourvu que ce ne soit pas la première. Cette place se trouve être seconde, troisième …, dernière, […]” (Fourquet 1938:289f.).
[11]“un grand nombre de phrases ont le verbe à la seconde place” (Fourquet 1938:291).
[12]Interessant ist, daß sich in diesem Stadium die V2-Stellung mit initialem da u.ä. offenbar als eine Variante der V1-Stellung herauszubilden scheint: “il semble qu'il s'en développe une variante, où le verbe placé en tête est précédé de fia, et se trouve ainsi second élément” (Fourquet 1938:291, vgl. ebd.:199). S.a. Jacobsson (1951:88), Lenerz (1984:136), Tomaselli (1995:361).
[13]“La position seconde du verbe dans la principale neutre s'est généralisée de façon rigoureuse” (Fourquet 1938:292).
[14]Daß die V1-Stellung in den ältesten belegten Stadien des Germanischen häufig auftritt, betonen u.a. auch die folgenden Autoren nachdrücklich: Mogk (1894:395), Delbrück (1900:67), Kieckers (1911:62), Curme (1922:461f.), Wunderlich/Reis (1924:107), Hirt (1919:93, 1929:342, 1937:254), Jacobsson (1951:165), Smith (1971:92), Lenerz (1985a:119), Minkova/Stockwell (1992:146).
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